Déjà-lu? Bücher


Titel
Wisting und der Tag der Vermissten
Autor
Jorn Lier Horst
Genre
Erschienen
1. Oktober 2019
Verlag
Piper
Seiten
464
Preis
15,00 €
ISBN
978-3492061414
SchönBuchHandlung

An diesen Krimi bin ich eher zufällig geraten. Beim Stöbern in meiner Lieblingsbuchhandlung habe ich ihn auf dem gut bestückten Krimitisch gefunden. Von dem Autor hatte ich noch nie etwas gehört, geschweige gelesen, aber der Klappentext zum Inhalt hat mich dann irgendwie angesprochen. Ohne lange zu überlegen, wann ich dieses Buch denn überhaupt lesen soll, habe ich es gekauft, zu Hause reingeschaut und in einem Rutsch verschlungen. So gut! Danach habe ich noch ein wenig recherchiert und festgestellt, dass es seit Jahren schon eine sehr erfolgreiche Reihe mit diesem Ermittler gibt, „Wisting und der Tag der Vermissten“ aber den Auftakt zu einer neuen Serie bildet, in der „cold cases“ bearbeitet werden. Also statt aktueller Verbrechen werden ungelöste Fälle der Vergangenheit wieder aufgerollt.

Im ersten Fall geht es um eine Frau, Katharina Haugen, die vor 24 Jahren spurlos verschwand, einen kryptischen Notizzettel auf dem Küchentisch hinterließ und nie gefunden werden konnte. Seitdem durchforstet Wisting immer am Jahrestag ihres Verschwindens die alten Akten in der Hoffnung, doch noch irgendeinen Hinweis zu finden, um diesen Fall zu lösen. Zu seinem Ritual gehört auch ein Treffen mit dem Ehemann dieser Katharina, Martin Haugen. Er hatte zum Tatzeitpunkt damals ein Alibi, kam als Täter nicht infrage und lebt seither zurückgezogen. Die Besuche des Kommissars haben die beiden einander näher gebracht und eine lockere Bekanntschaft entstehen lassen. Seine Stippvisiten zum Jahrestag sind nie angekündigt, aber immer erwartet. Deshalb ist Wisting irritiert, als er Haugen dieses Mal nicht antrifft und ihn über mehrere Tage hinweg auch nicht telefonisch erreichen kann. Gleichzeitig taucht auf dem Polizeirevier ein Kollege der Cold-Case-Unit in Oslo auf, der im Zuge seiner Ermittlungen auf eine Verbindung zu Wistings Vermisstenfall gestoßen ist: Die Fingerabdrücke von Martin Haugen wurden an einem Tatort sichergestellt. Adrian Stiller, der neue Kollege, ist davon überzeugt, dass Haugen in mindestens einem Fall der Täter ist und man nun nur noch versuchen muss, ihn zu überführen. Den schnellen Erfolg vor Augen, unterbreitet er einen von ihm ausgeklügelten Plan und verteilt selbstbewußt die Rollen in diesem Spiel. Es soll dreigleisig gefahren werden: Wisting soll undercover, sozusagen privat, ganz nah an Haugen dran bleiben und ihn zum Reden bringen, Stiller soll im Rahmen routinemäßiger Polizeiarbeit offen ermitteln, während die Presse mit begleitenden Berichten und Podcasts das Thema verbreiten und am Köcheln halten soll. Dass Wistings Tochter Line als Journalistin den Auftrag zur Mitarbeit auf der Medienseite erhält, ist ein interessanter Schachzug von Stiller.

Der Kriminalschriftsteller ist eine Spinne, die die Fliege bereits hat, bevor sie das Netz um sie herum webt.“

Sir Arthur Conan Doyle

Über 460 Seiten hinweg entwickelt der Autor die Geschichte gemächlich, aber stetig voran. Statt die Handlung atemlos vor sich her zu treiben, trägt er geduldig die Puzzleteile zusammen, bis sich das Bild nach und nach vervollständigt. Das Erzählen der drei parallel verlaufenden Stränge steigert permanent die Spannung ohne zu überdrehen. Die Protagonisten verbreiten eine atmosphärisch dichte, dennoch unaufgeregte Stimmung; laute, heldenhafte Actionszenen fehlen völlig. Alles hat den Anschein vollkommen realistischer Ermittlungsarbeit, was vielleicht daran liegt, dass Horst selber Kommissar war, bevor er mit dem Schreiben begonnen hat und daher sehr genau weiß, wovon er spricht. Er versteht es, den Täter glaubwürdig immer weiter einzukreisen, bis sich am Ende die Schlinge zuzieht.

Absolut authentisch ist auch das Personal in diesem Krimi. Wisting ist ein sympathischer, herrlich normaler Kriminalbeamter, bodenständig und ohne Allüren, den keine unbewältigte Vergangenheit zu einem psychisch unberechenbaren Kollegen macht, der eine ziemlich intakte Familienstruktur hat und darüberhinaus auch noch ein Teamplayer ist. Adrian Stiller, der Neue, ist ein wenig geheimnisvoll und nicht immer zu durchschauen, aber das macht ihn nur interessant, nicht unglaubwürdig. Die Tatsache, dass auf unfassbare Gewalt, schwer misshandelte Opfer und perverse Täter verzichtet wird, macht diesen Krimi für viele Leser geeignet.

„Seit dreißig Jahren versuche ich nachzuweisen, dass es keine Kriminellen gibt, sondern normale Menschen, die kriminell werden.“

George Simenon

Ich weiß nicht, ob sich der Norweger Jorn Lier Horst in dieser Tradition sieht, aber für den vorliegenden Fall gilt das unbedingt. Zu den stärksten Szenen gehört das Katz-und-Maus-Spiel, in dem Wisting und Haugen gegen Ende umeinander kreisen, bis sie zum Kern ihres Themas vorzustoßen. Es kommt tatsächlich zu einer Art Showdown, was aber dem eher kammerspielartigen Charakter nicht zuwider läuft.

Eine interessante Geschichte, spannend erzählt; der Nachfolger „Wisting und der fensterlose Raum“ steht schon auf der Einkaufsliste.

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