Déjà-lu? Bücher


Titel
Judith und Hamnet
Autor
Maggie O´Farrell
Genre
Erschienen
14. September 2020
Verlag
Piper Verlag
Seiten
414
Preis
22,00 €
ISBN
978-3492070362
SchönBuchHandlung

„Die Zeit ist aus den Fugen!“

Shakespeare: „Hamlet“

Wer kann diesem Cover schon widerstehen? Ein bezauberndes Bild, strahlende Farben und die güldene Schrift laden geradezu ein, dieses Buch nicht nur anzuschauen, sondern es in die Hand zu nehmen und reinzublättern. Wenn man den Buchdeckel aufklappt, wird das Auge mit zwei bedruckten Seiten verwöhnt, deren Muster an feinstes Florentiner-Geschenkpapier erinnert. Sobald der Blick auf den Klappentext gefallen ist, wird klar, welches Buch für den nächsten Lese-Marathon die „pole position“ bekommt! Ich zitiere:

„Die Pest erreicht Stratford-upon-Avon im Sommer des Jahres 1596. Gerade noch spielten Judith und ihr Zwillingsbruder Hamnet mit den Katzenjungen, jetzt ist ihr ganz heiß, ganz kalt, und er sucht verzweifelt nach Hilfe. Ruft seine Mutter Agnes, die ihn nicht hört, weil sie ihre Bienen im Garten vor der Stadt pflegt. Ruft die ältere Schwester, die Großmutter, ja sogar den Vater. Dabei weiß Hamnet, dass er Meilen und Stunden und Tage entfernt in London weilt. Dass er erst heimkommt, wenn die Theater wegen der Seuche wieder schließen müssen.
Vier Jahre später wird dieser Vater eine seiner berühmtesten Tragödien schreiben. Er wird sie nach seinem Sohn benennen, dessen Leben beinahe vergessen ist, dessen Name aber bis heute in der Weltliteratur widerhallt.

In „Judith und Hamnet“ entdeckt Maggie O´Farrell den bedeutendsten aller Dramatiker neu, als Liebenden und als schmerzerfüllten Vater. Und nicht zuletzt erzählt sie zum ersten Mal die unvergessliche Geschichte seiner eigensinnigen, zärtlich kühnen Frau: Agnes.“

Shakespeares literarisches Schaffen war immens, seine Werke sind welthaltig und weltbekannt. Von Harold Bloom gibt es eine Art Biografie der dramatischen Stücke: Er stellt dem Leser nicht nur den gesammelten Text zur Verfügung, sondern analysiert, kommentiert und interpretiert den Inhalt, um die bahnbrechenden Veränderungen in der zeitgenössischen Sprach- und Literaturauffassung auszuleuchten. So tritt uns Shakespeare als Schöpfer der modernen englischen Sprache und „Erfinder des menschlichen Charakters“ entgegen, und wir bekommen eine Ahnung davon, warum er seit so vielen Jahrhunderten der bei weitem populärste und universalste Dramatiker der Weltliteratur ist. Über sein Privatleben dagegen existiert wenig Bekanntes. Es gibt kaum gesicherte Quellen, und die meisten biografischen Daten müssen mit einem „vielleicht“, „wahrscheinlich“, „möglicherweise“, o.ä. versehen werden. Dieses Nicht-Wissen hat im Laufe der Zeit zu einer erheblichen Legendenbildung beigetragen.

Maggie O´Farrell nähert sich in ihrem neuen Roman „Judith und Hamnet“ dem Menschen Shakespeare nun auf eine ungewöhnliche Weise an: Sie stellt einen Zusammenhang her zwischen dem Tod seines Sohnes Hamnet und der Entstehung seines bedeutendsten Stückes „Hamlet“ vier Jahre später, der literaturwissenschaftlich jedoch nicht belegt werden kann. Der raffinierte Trick dabei ist, dass diese Annäherung über seine Frau geschieht, die sie in den Mittelpunkt des Erzählens rückt sowie seine Kinder, die neben ihrer Mutter eine wichtige Nebenrolle spielen. Agnes erscheint uns als eine in vieler Hinsicht außergewöhnliche Frau; mit ihrem Charakter, ihrer Bildung und – manchmal scheinbar übersinnlichen – Fähigkeiten fällt sie geradezu aus dem Rahmen der elisabethanischen Gesellschaft und machen sie zu einer Außenseiterin. Die Geschichte ihrer Abstammung ist ebenso sagenumwoben wie die ihrer Kindheit und Jugend von deprimierender Realität. Eines Tages lernt sie den acht Jahre jüngeren William Shakespeare kennen, der mit Lateinunterricht für ihre Halbbrüder Schulden seines Vaters abarbeiten muss. Der junge Mann ist sofort fasziniert von der unkonventionellen Agnes; eine spannungsreich sich entwickelnde Liebesgeschichte mündet in eine überstürzte Hochzeit und dramatische Geburten der Kinder im Verlauf der nächsten drei Jahre. Aber wir lesen auch von Shakespeares problematischen Verhältnis zu seinem Vater, ihren konträren Vorstellungen über die Zukunftsgestaltung und den zermürbenden Streitereien. Von seiner tiefen Depression als Folge eines sinnentleerten (beruflichen) Schaffens und der Übersiedelung nach London als mögliche Lösung des Problems.

Während O´Farrell nach und nach die Geschichte der Eheleute aufblättert, erzählt sie ganz gegenwärtig vom Hier und Jetzt: Von den schwierigen Lebensumständen der Mutter und Kinder im Haus der Schwiegerfamilie in Stratford, während sich ihr Mann im weit entfernten London ein neues, erfülltes Leben einrichtet und in die geistige Atmosphäre eintauchen kann, die er in der Provinz so schmerzlich vermisst hat. Und über allem schwebt der Traum, dieses Leben in naher Zukunft gemeinsam führen zu können. Sie schildert das Hereinbrechen des Unglücks in Form der aus Italien eingeschleppten Pest nach England, von der auch die Bewohner der Henley Street in Stratford-upon-Avon nicht verschont bleiben und die gnadenlos ihr Opfer fordert. Danach ist nichts mehr, wie es war: Die Welt ist aus den Fugen.

„Ich bin des Todes,
Du lebst,…
Schöpfe auf dieser rauen Welt in Schmerzen Atem,
um meine Geschichte zu erzählen.“

Mit diesem Zitat aus „Hamlet“ (5. Akt, 2. Szene) beginnt Maggie 0´Farrell den zweiten Teil des Romans, der ganz im Zeichen der Trauerbewältigung steht. Er nimmt nur etwa ein Viertel des Gesamtumfangs ein und ist atmosphärisch dichter gestaltet als der erste Teil. Was sich bisher wie ein historischer Roman gelesen hat, bekommt nun durch das zentrale Thema eine beunruhigende Allgemeingültigkeit. Die mitreißende Art ihres Erzählens hat uns von Anfang an hoffnungslos in diese Geschichte hineingezogen, nun aber stiehlt sie uns förmlich unser Herz.

Nach der Tragödie finden wir die ganze Familie im Leid vereint, doch schnell bekommt das Band, das alle zusammenhält, erste Risse: Der Ehemann erträgt die (nicht nur räumliche) quälende Enge nicht mehr und flüchtet zurück nach London, wo er seinen Schmerz in Arbeit zu ertränken sucht. Die Töchter lösen sich von der alles überwältigenden Trauer der Mutter und suchen eigene Wege, die Situation zu meistern. Über allem schwebt die Ungewissheit, ob und wie die Familie einen Weg aus der Krise heraus und wieder zueinander finden kann.

Bis zum fulminanten Ende lesen wir mit angehaltenem Atem und nehmen mit jeder Zeile Anteil an Zorn, Enttäuschung, Verzweiflung, Trauer und Hoffnung der Protagonisten. Wir sind unterschiedlich nah dran an den Figuren; besonders die starke, empfindsame Agnes ist uns so ans Herz gewachsen, dass wir uns am Ende nur ungern von ihr verabschieden. Den großen Dichter dagegen hält die Autorin merkwürdig auf Distanz. Während alle Figuren bei ihren Namen genannt werden, ist er immer nur der Vater, der Dichter, der Sohn, der Mann…aber niemals William. So tritt er in den Hintergrund, ohne jedoch völlig fremd zu bleiben. Auch wenn mit der Aufführung seines bedeutendsten Bühnenstückes am Ende des Romans der Künstler Shakespeare als literarischer Stern aufleuchtet, ist er uns in der Beziehung zu seiner Frau auch als Mensch nahe gekommen.

Leider gibt es keinen wissenschaftlichen Beweis dafür, dass der „Hamlet“ die literarische Bewältigung einer familiären Tragödie ist. Aber wir möchten doch gerne glauben, dass diese Geschichte wahr ist!

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