Déjà-lu? Bücher


Titel
Herzfaden
Autor
Thomas Hettche
Genre
Erschienen
10. September 2020
Verlag
Kiepenheuer&Witsch
Seiten
288
Preis
24,00 €
ISBN
978-3462052565
SchönBuchHandlung

„Eine Insel mit zwei Bergen…“

Wie könnte man jemals die von der „Augsburger Puppenkiste“ zur Aufführung gebrachten Märchen und Geschichten vergessen! „Kater Mikesch“, Urmel aus dem Eis“, Jim Knopf“, „Kommt ein Löwe geflogen“, „Der kleine dicke Ritter“, „Die Blechbüchsenarmee“ und viele, viele andere unglaubliche Geschichten und ihre Figuren waren treue Begleiter unserer Kindheit: Live auf der Bühne oder im Fernsehen – erst schwarz-weiß, später dann in Farbe. Generationen von Kindern lagen den Marionetten förmlich zu Füßen, wenn die Fäden die Puppen tanzen ließen und spannende Abenteuer erzählten. Prinzessinnen, Bösewichte, zerstreute Professoren, Tiere und rollende Blechdosen haben uns verzaubert und mitgenommen ins Reich der Phantasie. Auf unnachahmliche Weise haben uns die geschnitzten Geschöpfe berührt; in ihren Holzköpfen verbarg sich je ein eigener Charakter, der uns die Figur unsympathisch oder liebenswert erscheinen ließ. Viele Jahre später lagen wir dann mit unseren Kindern auf dem Boden oder saßen gemütlich auf dem Sofa, um die „Augsburger Puppenkiste“ ein weiteres Mal zu öffnen und in vergangene Zeiten und Welten einzutauchen.

Es ist so schön, dass Thomas Hettche nun einen Roman über dieses „Kulturgut“ geschrieben und seinem Schöpfer Walter Oehmichen damit ein Denkmal gesetzt hat. Noch schöner ist es, dass er es auf die Shortlist zum „Deutschen Buchpreis 2020“ geschafft hat!

Zum Glück ist es dem Verfasser nicht in den Sinn gekommen, seinen Lesern einen schnöden Abriss der 70jährigen Geschichte des berühmtesten Puppentheaters zu liefern, angereichert mit Schnurren und Anekdoten aus dem Leben der Protagonisten. Statt dessen dürfen wir uns an einem raffiniert komponierten Roman erfreuen, der auf zwei Erzählebenen, die auch typografisch voneinander getrennt sind, Realität (blaue Schrift) und Märchen (rote Schrift) miteinander verbindet.

Es beginnt wie eine Reise in das Land der Phantasie: Ein 12jähriges Mädchen nimmt nach einer Vorstellung der „Augsburger Puppenkiste“ reißaus und läuft seinem Vater davon. Zornig möchte es sich per Whatsapp bei seinen Freundinnen darüber beschweren, dass es doch zu alt sei für diesen kindischen Marionettenkram. In seiner Entrüstung verirrt es sich in dem weitläufigen und verwinkelten Gebäude, bis es schließlich auf der Treppe zu einem Dachboden landet. Hier siegt dann doch die Neugier und das Mädchen betritt, ähnlich wie Alice im Wunderland, ein Schattenreich. Zu seiner großen Überraschung trifft es dort auf eine illustre Schar von Marionetten, allesamt bekannte Figuren aus den Geschichten der „Augsburger Puppenkiste“ und höchst erfreut über den überraschenden Besuch. Nur der „Böse Kasper“ bleibt unfreundlich; er spielt bis zum Schluss eine undurchsichtige Rolle. Auch gesellt sich eine schöne Frau dazu: Es ist Hannelore Oehmichen, genannt Hatü, die verstorbene Tochter des Theatergründers und Erbin der Puppenkiste. Sie hat nicht nur die meisten Figuren geschnitzt, sie hat lebenslang ihr ganzes Herzblut, ihre Energie und Kreativität in das Unternehmen gesteckt. Und es ist Hatü, die dort oben in der ewigen Dunkelheit die Fäden in der Hand hält, während sie die Geschichte der „Augsburger Puppenkiste“ erzählt. Sie nimmt den Leser mit in den Sommer vor Ausbruch des 2. Weltkriegs, als ein scheinbar unbeschwerter Urlaub eilig abgebrochen werden muss. Einfühlsam und immer nah an seinen Figuren beschreibt Hettche, wie sich das Leben der Familie in Augsburg durch den Krieg verändert. Und wie der Aufbau der Puppenkiste, seine Vernichtung und der Kampf um den Neubeginn die Menschen prägt. Dabei wird deutlich, dass der Gründer in der Arbeit mit den Marionetten nicht nur ein Engagement zum Broterwerb sieht, sondern eine regelrechte Philosophie damit verbindet:

„Wir müssen die Herzen der Jugend erreichen, die von den Nazis verdorben wurden. Und die Fäden, mit denen wir sie wieder an Kultur anknüpfen, das sind die Fäden meiner Marionetten.“

Thomas Hettche: Herzfaden, S.128

Viele Freunde und Bekannte haben Walter Oehmichens Idealismus geteilt und geholfen, den Spielbetrieb in den schweren Zeiten aufrecht zu erhalten. Andererseits wurde er vielfach belächelt für sein unbeirrtes Festhalten an dieser Herzensangelegenheit. Auf die Frage, warum er als ausgebildeter Theaterschauspieler nicht wieder auf die „richtige“ Bühne zurück wolle, hat er eine klare Antwort:

„Aber ihm sei klar geworden, dass Puppentheater noch mehr Theater sei als Menschentheater. Marionetten seien die ehrlicheren Schauspieler. Sie ließen sich nicht verführen, und die Freude an ihnen sei eine wahre, unschuldige Freude.“

Thomas Hettche: Herzfaden, S. 158

Thomas Hettche hat für seinen Roman viel in Archiven gestöbert und ausführliche Gespräche geführt. Deshalb kennen wir nun die Historie des Phänomens „Augsburger Puppenkiste“. Dennoch hat er sich die dichterische Freiheit genommen, die Fakten mit ausgedachtem Beiwerk zu schmücken und so zu einer Lebendigkeit zu verhelfen, die dem Leser Genuss bereitet. Zwischen den Zeilen stellt er auch die Frage nach Schuld und Sühne, Verbrechen und Neuanfang. Und über allem schwebt der unvergängliche Zauber, den Marionetten nicht nur auf Kinder, sondern auch auf Erwachsene, ausüben.

„Marionetten sind unfertige Menschen. Und alles, was wir machen, ist unfertig. Denn was machen wir? Wir wackeln mit einem Stück Holz! Alles andere geschieht im Kopf des Zuschauers. Ein Schauspieler spielt das Sterben, eine Marionette aber stirbt tatsächlich. Denn wenn wir aufhören, sie zu bewegen, ist sie für den Zuschauer wieder nichts anderes als totes Holz. Und dann wird sie wieder lebendig. Märchenhaft sind nicht die Geschichten, die wir erzählen, ein Märchen ist das Erzählen selbst.“

Thomas Hettche: Herzfaden, S.167.

Und was es nun mit dem Herzfaden auf sich hat, müsst Ihr selbst herausfinden!

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