Déjà-lu? Bücher


Titel
Die Einsamkeit der Seevögel
Autor
Gohril Gabrielsen
Genre
Erschienen
14. Dezember 2020
Verlag
Insel Verlag
Seiten
174
Preis
10,00 €
ISBN
978-3458681212
SchönBuchHandlung

„Überlege wohl, bevor du dich der Einsamkeit ergibst, ob du auch für dich selbst ein heilsamer Umgang bist.“

Marie von Ebner-Eschenbach

Hätte sich die Protagonistin dieses Romans im Vorfeld ihrer Unternehmung mit dieser Überlegung auseinandergesetzt, wäre sie wohl nicht in die Wildnis gefahren. Allerdings hätte sie uns damit um das (Lese)Vergnügen gebracht, einen spannenden Trip in die spektakuläre Landschaft irgendwo am Ende der Welt einerseits, und eine intensive Reise in das aufgewühlte Seelenleben einer jungen Frau andererseits mitzuerleben. Seien wir also froh, dass sie das Abenteuer gesucht hat. Doch worum geht es?

Eine namenlose Ich-Erzählerin begibt sich zu Forschungszwecken an den nördlichsten Rand Norwegens. Das Sammeln meteorologischer Daten im Zusammenspiel mit dem Beobachten der Seevögel soll wissenschaftlich fundierte Daten liefern, um den Einfluss klimatischer Veränderungen auf die Seevögelpopulation dieser Region robust belegen zu können. Mit der erfolgreichen Durchführung der Mission hofft sie, endlich ihre vor längerer Zeit begonnene Dissertation abzuschließen. Zuviel Energie, Geld und Zeit hat sie bisher investiert, nun möchte sie die wissenschaftliche Karriere zügig vorantreiben. Bestens versorgt mit Ausrüstung, Material und Lebensmitteln für mehrere Wochen, bezieht sie am Rande der Zivilisation – der nächste Ort befindet sich 100 Kilometer weit entfernt – eine verlassene Fischerhütte, zunächst allein. Der Plan ist, dass ihr Geliebter Jo kurze Zeit später nachreisen wird, um sie bei ihren Forschungen zu unterstützen. Bis dahin soll zu fest verabredeten Zeiten telefoniert oder geskypt werden.

Die Abgeschiedenheit, die felsig-karge Landschaft und die wechselhaften Launen der Natur erzeugen zunächst das Gefühl von Abenteuer, positiver Aufregung und erwartungsvoller Spannung:

„Hier ist das Ende der Welt. Danach kommt nichts mehr. Ein endloses Meer grenzt an Klippen und Berge, zwei Extreme, die unaufhörlich miteinander ringen, bei ruhigem Wetter wie bei Sturm.
Leichter Schneefall verwischt die Grenze zwischen Himmel und Erde. Um nicht versehentlich über die Kante zu rutschen, stelle ich das Schneemobil samt Anhänger direkt neben einem Felsblock ab. Er ragt groß und schwarz aus der weißen Landschaft und ist hoffentlich auch bei dichter werdendem Schnee leicht wiederzufinden.
Zum Rande des Abgrunds hin fällt der Berg sanft ab. Ich schnalle die Schneeschuhe fest, rücke die Stirnlampe zurecht und richte den Lichtstrahl auf jeden meiner Schritte ins Halbdunkel. Der Wind bläst mir ins Gesicht, und nach ein paar Metern ertappe ich mich dabei, das Lärmen und Rütteln des Schneemobils zu vermissen, das Unvorhersehbare der Natur um mich herum wird mir bewusst; eine jähe Sturmbö, Schneegestöber, zunehmende Kälte. Von einem Vorsprung fünf Meter von der Kante entfernt und direkt neben einer Kluft, die in den Berg hineinschneidet, fällt mein Blick auf einen Felsen, der steil und verwittert aus dem Meer aufragt. (…) Tief unten bricht sich das Meer, grauschwarz und in schwerer Dünung. Das Dröhnen ist ohrenbetäubend. konstant; selbst als ich die Hände an meine Ledermütze lege und sie auf meine Ohren presse, dringt der Lärm pulsierend an mein Trommelfell.“

Die Einsamkeit der Seevögel, S.5

Diese Auftaktbeschreibung lässt den Leser schon ahnen, dass es im weiteren Verlauf der Geschichte ungemütlich werden könnte. Tatsächlich scheint die junge Frau diesen neuen Abschnitt in ihrem Leben erst einmal zu genießen. Das Fokussiertsein auf die wissenschaftliche Arbeit; das Entwickeln einer an die Verhältnisse angepassten Alltagsstruktur; die Ruhe und Einsamkeit der weiten Landschaft, die Raum zum Nachdenken über das Leben geben und Distanz schaffen zu unschönen Dingen der unmittelbaren Vergangenheit; die Vorfreude auf traute Zweisamkeit mit dem Menschen, den man liebt, lassen das Alleinsein mit sich selbst als ein großes Glück erscheinen. Aber die hoffnungsvolle Verheißung verliert mehr und mehr ihren Zauber. Oder anders ausgedrückt: Das vermeintliche Paradies erweist sich als Hölle.
Die Gespräche mit Jo sind zäh und seltsam unbestimmt, seine Ankunft verzögert sich immer weiter. Die Einsamkeit bekommt eine neue Qualität; und je länger die junge Frau nur den eigenen Empfindungen und Wahrnehmungen ausgesetzt ist, desto stärker verschiebt sich ihre Aufmerksamkeit vom Hier und Jetzt hin zu Vergangenheit und Erinnerungen, richtet sie den Blick auf ihr Innenleben. Beinahe unmerklich verheddert sie sich im Strudel dunkler Gefühle, die sich in existenziellen Ängsten verfestigen.

Gohril Gabrielsen gelingt es in hervorragender Art und Weise, dieser handlungsarmen Geschichte eine unglaubliche (psychologische) Dramatik zu verleihen, der man sich nicht entziehen kann. Die Beschreibung von Landschaft und Wetterphänomenen in atemberaubenden Illustrationen wird schleichend zum Spiegelbild des Seelenlebens einer Frau im Ausnahmezustand. Sie steigert die Konfrontation der Protagonistin mit ihrer dunklen Seite bis zu einem Punkt, an dem Wahn und Wirklichkeit gefährlich miteinander verschmelzen. Am Ende sind einige Fragen gelöst, andere bleiben offen:

„Den Finger am Abzug, kalt und ruhig, hole ich drei Mal tief Luft. Ich hole Luft und denke an Lina, an die Ankunft der Vögel und an das Leben, das weitergehen wird, und rufe laut und deutlich: „Herein!“

Die Einsamkeit der Seevögel, S.174

Atmosphärisch dicht, intensiv, aufwühlend. Kleines Buch, großes Kino!

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