
Rauschhaftes Lesen
Notiz / 5. Februar 2025
Es gibt Leute, die stolpern ständig über Steine oder Löcher im Gehweg, Treppen rauf oder runter oder auch über ihre eigenen Füße. Ich bin sehr schlecht darin, Büchern auszuweichen, denn ich stolpere permanent über Lektüretipps. Wohin ich mich auch wende, ein Buch ist immer schon da und stellt sich mir in den Weg.
So auch „Villa Sternbild oder die Unschärfe der Jahre“ von Monika Zeiner. Ein kurzer Post auf Instagram, aus den Augenwinkeln wahrgenommen. Das flüchtige Lesen der Empfehlung hat gereicht, um Interesse zu wecken und weitere Informationen zu recherchieren. Schnell war ich angefixt und habe in der Buchhandlung meines Vertrauens den Roman gekauft. Das war am Freitag. Am Samstag wollte ich nur kurz mal reinlesen, um einen ersten Eindruck zu gewinnen. Ratzfatz hatte ich die ersten 50 Seiten weggeschmökert und dann passierte das Unvermeidliche: Ich konnte nicht mehr aufhören! Dem Sog des Erzählens hatte ich schnell nichts mehr entgegenzusetzen, statt dessen wurde ich immer tiefer in die Geschichte hineingezogen. Rauschhaftes Lesen: wenn man alles um sich herum vergisst und Kapitel um Kapitel liest, bis irgendwann der Punkt erreicht ist, an dem man nicht mehr aussteigen kann, weil man süchtig geworden ist.
„Nach langer Zeit kehrt Nikolas Finck, ein Schulmöbelfabrikantensohn, in sein Elternhaus bei Nürnberg zurück. Aus dem Wochenende wird ein Jahr. Einquartiert in der Dachkammer der Villa Sternbild, steigt er in die bewegte Vergangenheit der Familie hinab und beginnt zu erzählen: von seiner Kindheit und der ersten Liebe, von der Erfindung der Columba-Schulbank, dem traurigen Insektenforscher Jean und der glasflügeligen Edith, von nächtlichen Flugstunden mit dem heiligen Sebald und den beiden Frauen, die er vielleicht noch immer liebt. Während im Haus eine Ausstellung über „das Klassenzimmer im Wandel der Zeit“ und das Firmenjubiläum vorbereitet werden, stört er das Treiben. Wie früher verfolgt der selbsternannte Aerophonautiker und Schnurologe eigene Pläne – um das Dunkle in der Familiengeschichte ans Licht zu bringen, vor allem aber zur Verteidigung der Kindheit seiner Neffen.“
(Klappentext)
Warum hat mich dieser Roman so begeistert, dass ich am Samstag ein- und erst am Montag wieder daraus aufgetaucht bin?
Es ist zum einen die wechselvolle, über hundertjährige Geschichte dieser Familie und ihres Möbelunternehmens im Lichte der sich verändernden Zeiten. In diese Zeiten hinein stellt die Autorin interessante, vor allem komplexe Figuren. Aus dem Kreis der Familienmitglieder sticht besonders der Urenkel des Firmengründers, Nikolas, hervor, der mit unbequemen Fragen und provokantem Verhalten gegen das Schweigen seiner vorangegangenen Generationen zum Thema Nationalsozialismus rebelliert. Doch anstatt den Lesern die in der in der Literatur häufig gewählten Narrative für diese Auseinandersetzung zu bemühen und allseits bekannte klischeehafte Argumente vorzusetzen, fordert Monika Zeiner dessen Mitdenken heraus. Kluge Dispute und intelligente Streitgespräche der Figuren veranschaulichen auf lebendige Art und Weise unterschiedliche Sichtweisen auf Theorien und Entwicklungen. Sie nehmen uns mit auf Ausflüge in Philosophie, Theologie, Pädagogik und andere Wissenschaften; wir begegnen Luther, Foucault, Kant, Hegel und weiteren und stellen fest, wie ihr Denken und Wirken in unsere Gegenwart strahlt. Insgesamt entsteht so der Eindruck, dass zwar ein Thema allgegenwärtig ist, sich aber nicht plump in den Vordergrund drängt und anderen Sujets Raum lässt, sich mit ihm zu verknüpfen.
Zum anderen finde ich die Komposition des Romans sehr gelungen. Es gefällt mir, dass die Geschichte nicht streng chronologisch erzählt wird, sondern ein ständiger Wechsel von Zeit, Ort und Geschehen stattfindet, ohne jedoch den Leser zu verwirren. Das Erzählen harter Realität wird mitunter aufgelockert durch eingestreute Träume, phantastische Gedankenreisen oder eingebildete Erlebnisse.
Gerne habe ich mich von der stilistischen Kreativität der Autorin zum Eintauchen in die Geschichte verführen lassen, denn auch sprachlich ist dieser Roman ein Genuss! Der Sprachwitz erzeugt eine Lebendigkeit, die mitreißt. Es wird die gesamte Klaviatur der Erzähltöne bespielt: von sachlich bis poetisch, von witzig bis wütend, von heiter-ironisch bis melancholisch. So macht Literatur Spaß.
Fazit: Dieses Buch zu lesen ist ein rauschhaftes Vergnügen – ein Rausch ohne Reue!