Déjà-lu?


Weihnachtsbriefe

Notiz / 3. Dezember 2020

Zu keiner anderen Zeit des Jahres werden mehr Briefe geschrieben (wenn überhaupt) als in der Advents- und Weihnachtszeit. Im Zeitalter von Email und WhatsApp, Facebook und Instagram werden gute Wünsche zum Fest oder Jahreswechsel leider immer häufiger mal eben durch die Leitung gejagt, Selfies und dazugehörende Geschichten in Echtzeit übermittelt. Kaum jemand greift zu Stift und Federkiel, um ein paar längere Zeilen zu Papier zu bringen. Ein hingekritzelter Gruß auf eine gekaufte Karte ist das höchste der Gefühle. Das war früher anders: Da wurde der Füller flugs ins Tintenfass getaucht und eifrig über das Papier gekratzt. Ich habe ein paar Weihnachtsbriefe bedeutender Schriftsteller ausgegraben, und es war mir ein großes Vergnügen, sie zu lesen! Hier nun der Brief des Schriftstellers J.R. Tolkien an seine Kinder:

Die Nordpolspitze ist mitten entzweigebrochen
und auf das Dach meines Hauses gefallen

Klippenhaus
Ende der Welt
Beim Nordpol
Weihnachten 1925

Meine lieben Buben,

ich habe in diesem Jahr furchtbar viel zu tun – wenn ich daran denke, zittert mir die Hand noch ärger als sonst – , und sehr reich bin ich auch nicht gerade. Es haben sich nämlich schreckliche Dinge ereignet, und von den Geschenken sind einige ganz verdorben, und ich habe den Nordpolarbären nicht dazu gekriegt, dass er mir half, und genau vor Weihnachten musste ich auch noch umziehen. Ihr könnt Euch also vorstellen, wie es hier aussieht, und nun wisst Ihr auch, warum ich eine neue Adresse habe und Euch beiden nur einen Brief schreibe.
Das alles kam so. An einem sehr windigen Tag im November wurde mir meine Zipfelmütze vom Kopf geblasen; sie flog davon und blieb an der Spitze des Nordpols hängen. Obwohl ich ihm sagte, er solle es bleibenlassen, kletterte der Nordpolarbär bis zur dünnen Spitze hinauf, um die Mütze zu holen – und das hat er auch geschafft. Aber die Nordpolspitze ist mitten entzweigebrochen und auf das Dach meines Hauses gefallen, und durch das Loch plumpste der Nordpolarbär ins Esszimmer, mit meiner Zipfelmütze auf der Nase, und der ganze Schnee rutschte vom Dach ins Haus hinein und ist geschmolzen und hat sämtliche Feuer ausgelöscht und lief auch in die Keller hinunter, wo ich die Geschenke für dieses Jahr gerichtet hatte, und der Nordpolarbär hat sich ein Bein gebrochen.
Das ist jetzt wieder heil, aber ich habe ihn so ausgeschimpft, dass er sagt, er will mir nie wieder helfen. Ich glaube, er ist ernstlich beleidigt, aber bis zum nächsten Weihnachtsfest gibt sich das wieder.
Ich schicke Euch hier ein Bild von dem Unglück und von meinem neuen -haus, das hoch auf den Klippen über dem Nordpol steht (es hat herrliche, tiefe Felsenkeller). Wenn John mein zittriges altes Gekritzel nicht lesen kann (immerhin bin ich eintausendneunhundertundfünfundzwanzig Jahre alt!), soll er seinen Vater darum bitten. Wann wird Michael denn lesen lernen und mir auch mal einen Brief schreiben? Alles Liebe Euch beiden und Christopher, der einen richtigen Christfestnamen hat.

So viel für diesmal. Lebt wohl
Euer Weihnachtsmann

P.S. Der Weihnachtsmann hatte es sehr eilig – er hat mich gebeten, eines seiner magischen Weihnachtsknallbonbons einzupacken. Zieht daran und wünscht Euch was, dann geht es in Erfüllung. Entschuldigt die dicke Schrift, ich habe riesige Pranken. Ich helfe dem Weihnachtsmann beim Einpacken: Ich wohne bei ihm. Ich bin der

GROSSE (POLAR)BÄR

J.R.R. Tolkien an seine Kinder John, Michael und Christopher. In: Habt alle ein schönes Fest und einen warmen Ofen. Weihnachtsbriefe berühmter Frauen und Männer. Herausgegeben von Petra Müller und Rainer Wieland. Propyläen Verlag, S. 111-113.

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